Grätzlfestgeschichten

17.06 - 18.6

Über die Lust am Laufen in der Stadt

Durch den 15ten Bezirk zu laufen hört sich im ersten Moment gar nicht so verlockend an. Zu Unrecht: Es gibt wohl kaum eine bessere Möglichkeit, den Grätzl-Puls zu spüren als schnellen Schrittes. Wir waren zwei Mal unterwegs – Sonntagmorgen mit Personal- und Lauf-Trainerin Ruth Riehle, Montagabend mit Standard-Kolumnist Thomas Rottenberg („Rotte rennt“).

Der Sonntagslauf: Easy Like Sunday Morning

"Hallo Harry, ich befürchte, dass ich heute – so leid es mir tut – absagen muss. Mein Kopf! (keine Ausrede)"

So endet die Nachricht, die ich nie an meinen Kollegen und Lauftraining-Organisator Harry abgeschickt habe, weil ich die Klammer nicht schließen konnte, denn es handelt sich sehr wohl um eine Ausrede, und das wird mir und meinem leicht schmerzenden Kopf bewusst, als ich das Wort Ausrede schreibe. Deshalb raffe ich mich auf, schnüre die Laufschuhe und laufe zum vereinbarten Treffpunkt am Westbahnhof, wo sich unsere kleine Gruppe um 9 Uhr 45 zum Sonntagslauf versammelt. Einer aus der Runde hat gestern vier Bier getrunken, eine andere ist halbkrank und die dritte hat Liebeskummer. Ein repräsentativer Mix aus Hobbyläufern ohne Marathonambitionen. Lauftrainerin Ruth Riehle meint, wir würden es langsam angehen. Danke, danke, danke, sage ich leise vor mich hin.  

Wir dehnen und wärmen uns auf, und um 10 Uhr laufen wir los, wirklich gemütlich, den Gürtel entlang bis zur Clementinengasse, dort biegen wir rechts ab. „Hier ist der Ursprung von Fünfhaus, das war der reichste Teil von Rudolfsheim, weil er nahe der Bahn liegt“, sagt Ruth, die Touren wie diese durch alle möglichen Bezirke macht, meistens für Touristen. „Ich mache das selber auch immer so, wenn ich in anderen Städten bin, denn laufend kann man superviel entdecken.“ Wir laufen am Wienfluss vorbei („Der ist 34 km lang und war zu römischen Zeiten mehrere hundert Meter breit.“), rauf in die Stiegergasse, dann in die Grimmgasse, die früher Fischergasse hieß („wegen dem Fischfang“) und dann den Gebrüdern Grimm gewidmet wurde. Zum Glück laufen wir nicht unter Eichen, denn in denen wütet gerade der Prozessionsspinner, eine Raupe, deren Härchen, einmal in die menschliche Haut eingedrungen, Ausschlag & Co hervorrufen – Ruth hat’s am eigenen Leib erfahren, wie sie erzählt, und kann nur davor warnen. „Laufen ist nicht das Wahre, Essen ist das Wahre!“ ruft uns ein junger Mann zu, den wir, trotz gemächlichen Tempos, beinahe niederrennen. Er ist einer von wenigen Menschen, die heute anzutreffen sind auf den Straßen von 1150 Wien – es ist schließlich Sonntagvormittag.

Die Lauftrainerin läuft, seit sie denken kann, aber nicht aus Leistungsgründen, sondern um in den Flow zu kommen, also „eher aus Meditationsgründen“. Wir kommen gerade auf dem Henriettenplatz an („Hier stand früher das Sommerpalais von Erzherzogin Marie Christine, einer der Töchter von Maria-Theresia.“), wo wir eine kurze Pause machen. „Früher habe ich mich nie für Geschichte interessiert, aber seitdem ich das Sightjogging mache, hat sich das geändert.“ erzählt Ruth, und weiter geht es in die Herklotzgasse, vorbei am Brick-5, in die Turnergasse, bis wir zum Rustensteg und seinem -tunnel kommen („Man kann von diesen schmuddeligen Ecken halten, was man will – ich mag die ja irgendwie.“), und auf dem Weg zurück zum Westbahnhof reden wir über Gentle Running, Natürliches Laufen und Barfußlaufen, während wir versuchen, den Rhythmus zu ändern: „Statt dum-dum-dum-dum läuft mal ta-ta-ta-ta-ta-ta-ta-ta, ohne das Tempo zu ändern“. Das ist schwieriger als es sich anhört, aber es ist eine interessante Erfahrung, denn sie zeigt: Egal wie groß oder klein die Schritte sind, sie führen gleich schnell ans Ziel, an dem wir nun ankommen und wo wir den Sonntagslauf so beenden, wie wir ihn begonnen haben – mit sanftem Dehnen und Strecken, aber mittlerweile ohne Kopfschmerzen und mit etwas weniger Liebeskummer.

Der Montagslauf: Busy like Monday morning

Wir treffen uns um 19 Uhr am selben Ort. Ich bin die einzige Frau unter vier Männern, darunter David, der uns mit seiner Kamera auf dem Skateboard folgen wird. Es ist ähnlich schwül wie am Tag zuvor, aber die Atmosphäre hier am Westbahnhof, die ist anders. Die Menschen wirken gehetzter, gestresster, müder. Hektik und G’schaftigkeit liegen in der Luft: Montags-Stimmung.

Ohne aufzuwärmen, laufen wir los, die Route noch ungewiss. „Wir laufen nach dem Zufallsprinzip“, sagt Thomas Rottenberg: Wenn wir bei einer Ampel stehen und ein rotes Auto sehen, biegen wir rechts ein, ansonsten links. Das funktioniert nicht lange, denn manchmal treffen wir auf Straßen ohne Autos. Auf der Sechshauser Straße, die so heißt weil hier früher sechst Häuser standen, beschließen wir, zum alten Stundenhotel zu laufen, das Thomas urplötzlich in den Sinn kommt, oder besser gesagt das Buch dazu: „17 Jahre ohne Sex“, Bernhard Salomons wunderschöne Reportage über eine Domina, die 17 Jahre keinen Sex hatte, der für sie zählte. All das erzählt er ohne zu schnaufen, trotz des Tempos, das für mich schnell ist und für ihn wahrscheinlich langsam. Rote Ampeln werden überlaufen, Harry läuft gegen einen Hydranten und keiner merkt es, ich drehe mich kurz um und sehe David auf dem Skateboard nicht mehr, und schon sind wir da, in der Graumanngasse, an deren rechtem Ende das alte Hotel Bauer steht, ehemaliger Schauplatz des eben genannten Buchs. Aber wir verweilen nicht, sondern laufen weiter, Richtung Schmelz, pausenlos, wieder durch die Grimmgasse, wo uns heute der Grimmgarten und die zwei Märchenfiguren oberhalb eines Hauseingangs auffallen, und dabei piepst es ständig an Armgelenken und auf Handys, auf denen smarte Apps alles Mögliche mittracken, und es wird geredet über Marathonzeiten, Leistungsdiagnostik und Proteine, bis wir wieder den Rustensteg überqueren („Stiegentraining!“) und ich mich dabei erwische, wie ich, um mitzuhalten, nun auch jeweils zwei Stufen auf einmal nehme.

Angekommen auf der Felberstraße warten wir an der Ampel, und dem Journalisten schießt eine Erinnerung in den Kopf, an Jack Unterweger, mit dem er hier mal für eine Reportage unterwegs war, ganz am Anfang seiner Laufbahn. „Nie habe ich einen Mann gesehen, auf den die Frauen so derartig abgefahren sind“, erinnert er sich. Eine Telefonnummer nach der anderen habe Unterweger einkassiert, und das, obwohl er „resozialisierter“ Mörder war. Oder vielleicht weil er es war? Dass er, der Vorzeige-Entlassene, einfach weitermorden würde, hätte man nicht ahnen können, sagt Thomas in die Abendluft hinein, noch immer nicht schnaufend, und wir sind jetzt auf dem Platz bei der U3-Station Johnstraße und kurz darauf auf der Schmelz, und ich höre wieder das Geräusch, das die Räder von Davids Skateboard machen. Aber in Gedanken, da bin ich noch immer bei der Geschichte mit Jack.

Ich frage Thomas, wie das so war, mit dem Laufen und ihm, und er erzählt mir die Geschichte von ihm und dem Laufen. Sie beginnt spät und eigentlich mit Krafttraining und wurde erst nach Knieschmerzen und Überwindungen zur echten Laufstory mit Marathon-Erfolgen und kleinen Rückschlägen, wie das eben so ist, aber jetzt wisse er immerhin, woran der Nicht-Erfolg oft gelegen hätte: Er sei nämlich mehr an den eigenen Erwartungen gescheitert als an den äußeren Umständen. Dennoch hat er, seitdem er begonnen hat, nicht aufgehört mit dem Laufen, und Wien hat er schon unzählige Male durchquert. Darüber hat er sogar ein Buch geschrieben („Wien rennt“), denn im Stadtlaufen sieht nicht nur er durchaus einen Trend und nun zitiert er, weil es so gut passt, zum Abschluss noch Thomas Madreiter, den Planungsdirektor der Stadt Wien, der ihm mal in einem Interview gesagt habe: Durch das Laufen in der Stadt holen sich die Leute die Stadt zurück.

Wir sind zurück am Westbahnhof, es ist 20 Uhr. Der Abendhimmel schimmert und leuchtet in den Pantone-Farben 2016, „Rose Quartz“ und „Serenity“. Der Atem wird langsamer. Der Körper kommt zur Ruhe. Dieses „Alles ist gut“-Gefühl stellt sich ein. So soll es sein. Genau so. Fühlt sich easy an. Easy like Sunday morning.

 

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