Grätzlfestgeschichten

16.06.2018

Der geheime Bürgermeister von Reindorf

Es gibt wohl niemanden in ganz 1150 Wien, der mehr über die Straßen, Häuser und Märkte des Bezirks zu erzählen vermag als Hans Hatzl. Mit ihm wird eine Grätzltour durch Fünfhaus zu einer Zeitreise.

„Hallo, Markus! Ja, wir würden jetzt rüberkommen. Passt dir das?‟, sagt Hans Hatzl ins Handy. Wir befinden uns in der Base Food & Celebrations (Werkstadt 15) in der Reindorfgasse, hier ist Treffpunkt für den Grätzlwalk. Es ist dieselbe Straße, in der auch Hans mit seiner Frau lebt, in einem Haus, in dessen Erdgeschoss jahrzehntelang der Malereibetrieb zuhause war, den Hans bis zu seiner Pensionierung erfolgreich geführt hat. Markus, das ist der Mann, der in der Kirche schräg gegenüber Predigten hält, Babys tauft und Paare traut. Wir wechseln die Straßenseite und stehen nun auf dem Kirchenplatz. Der Pfarrer bittet uns in die Kirche, in der es angenehm kühl ist und nach Weihrauch riecht. Auf der linken Seite, ungefähr in der Mitte, schaut eine Marienstatue auf uns herab. „Und dahinter ist eine Türe. Wenn es zu viele Tote für Beerdigungen gab, hat man die Leichen hier gesammelt. Da brauchte man dann besonders viel Weihrauch‟, erzählt Hans, der selber kein Kirchengeher ist, „außer bei Konzerten‟, die er hin und wieder mitorganisiert, als Local Hero, den hier jeder kennt, grüßt und schätzt. 

Reindorfgasse – Herklotzgasse

Von der alten Kirche aus starten wir die rund zweistündige Tour durchs Grätzl. Vorbei am Gasthaus Quell, „wo der Ostbahn-Kurti und der Lukas Resetarits immer waren‟, links hinein in die Herklotzgasse, wo wir in die Turnhalle einkehren, in der sich früher die jüdische Community fit gehalten hat. Heute steht der obere Teil für Veranstaltungen & Co zur Verfügung, und im unteren werden Kaffee und Kuchen serviert. Im Sommer kann man auch im begrünten Innenhof sitzen. Hans bestellt eine Melange und erzählt vom Lebertran, den er als Schulbub trinken musste („das war scheußlich, aber immerhin sind wir nicht rachitisch geworden‟), dass er nie stillsitzen konnte („heute heißt das ADHS‟), immer ein „Nicht Genügend‟ in Betragen hatte und deshalb mehrere Schulen besucht hatte, weil man ihn, den „Unruhestifter‟, immer wieder rausgeschmissen hatte.

„Ich war so was wie ein Strizzi, also kein richtiger, aber einer, der immer auf der Straße unterwegs war.‟

Und der sich mit kleinen Jobs über Wasser hielt, etwa dem Einsammeln von Papier, das er der Papierfabrik verkaufen konnte, oder dem Tragen von Gepäck am Westbahnhof. „Das hat sich schon ausgezahlt. Da haben wir bis zu 10 Groschen verdient.‟ Das entsprach in etwa fünf Tafeln Schokolade. 

Henriettenplatz – Turnergasse 

Nach der Kaffeepause spazieren wir über den Henriettenplatz (benannt nach einer der Töchter Maria Theresias) zum Denkmalpark Turnertempel, eine Erinnerung an die Synagoge, die im November 1938 von den Nationalsozialisten zerstört wurde. „Im 15ten gab es damals eine große jüdische Gemeinschaft. Heute sieht man sie nur mehr im Zweiten,‟ sagt Hans, bevor wir weitergehen zum Bezirksmuseum, das in seinen Räumlichkeiten Ausstellungen, Veranstaltungen und Workshops organisiert. 

 

 

Schwendermarkt

Aufgewachsen ist Hans, Jahrgang 1943, mit seinem gleichaltrigen Stiefbruder und einer zehn Jahre jüngeren Halbschwester – den Vater hat er nie kennengelernt, der ist im Krieg gefallen – auf der Äußeren Mariahilferstraße, im Haus gegenüber der Reindorfgasse, wo die kleine Treppe ist. Links davon, wo heute nur Straße ist, war früher der Fischmarkt.

„Damals hat mich fasziniert, wie die Frauen mit ihren Gummistiefeln dagestanden sind und die Karpfen ausgenommen haben.‟ erzählt Hans.

Der Fischmarkt war Teil des Schwendermarkts, der erstens einer der ältesten Märkte Wiens ist (Baujahr 1833) und zweitens einst zu den größten der Stadt zählte. Heute ist von seiner ursprünglichen Größe nur ein kleiner Teil geblieben. Gewidmet ist er dem Unternehmer Carl Schwender, der hier unter anderem ein Vorstadt-Etablissement mit dem unbescheidenen Namen „Schwenders Kolosseum‟ gebaut hatte, wo auf Lumpenbällen getanzt und gefeiert wurde. 

Äußere Mariahilferstraße

Nun gehen wir die Äußere Mariahilferstraße entlang. Wo heute die Büros von Rustler Immobilien sind, war früher ein „Blutkino‟, wie Hans erzählt: „Da spielten sie Western und Abenteuerfilme, aber ins Kino bin ich nicht gerne gegangen, weil ich das alles so mitgelebt habe‟, und stillsitzen, ja, das war nicht so seins. „Auch heute bin ich gerne unterwegs. Wenn ich mal zwei Tage zuhause bin, fragt mich meine Frau, ob’s mir eh gut geht.‟ 

Wenn man mit Hans die Straßen des 15. Bezirks abgeht, wundert man sich, dass keine Pferdekutschen vorbeifahren und die Frauen keine langen Kleider tragen – und jeder ein Handy hat. Dass die Essig- und Metallfabrik, die Schnapsbrennerei nun Wohnhäuser sind. Dass Hans kein „kleiner Bua‟ mehr ist, der als Aufnahmetest für die Malerlehre einen 33 Kilo-Sack Zement mehrere Stockwerke rauf- und wiederruntertragen musste: „Und ich in meiner Angst hab’s dann irgendwie geschafft.‟ 1150, das ist nun mal sein Grätzl. Und es gibt wohl niemanden, der so lebendig über das Grätzl zu erzählen vermag wie Hans Hatzl.

 

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