Grätzlfestgeschichten

10.06.2018

Lektionen im Sehen

Vier Stunden, vier Teilnehmende, vier Fotostrecken und ganz neue Blicke aufs Grätzl. Beim Fotowalk, geleitet von Benedikt Steiner – laut seinem Instagram-Account (@140_gram) ‚Visual Artist, Writer, Leader of Workshops’ – lernt man vor allem eines: das Sehen.

Schwül ist es an jenem Sonntagnachmittag, als wir uns in den Grätzlfest-Räumlichkeiten im vierten und letzten Stock des Co-Working-Turms in 1150 Wien treffen. Zum Glück gibt es hier mehrere Terrassen mit Türen, die, geöffnet, kleine Windstöße durch den loftartigen Raum ziehen lassen. Sie erlauben auch gute Blicke auf die leerstehenden Gleise des naheliegenden Westbahnhofs, zwischen denen allerlei Pflanzen sprießen. Blicke, um die soll es nun auch beim Workshop gehen. 

Ball, Junge oder Erdbeeren? 

Eine kleine Böe wirbelt die A4-Blätter auf, die Benedikt auf den Boden gelegt hat. Auf jedem von ihnen ist ein Foto abgebildet: ein Paar in Trenchcoat auf den Straßen New Yorks, spielende Kinder in einem Hof in Mexiko, sechs rosa-rote quadratische Bilder nebeneinander. Er fragt uns, was uns jeweils zuerst auffällt. Der Ball? Der Junge? Die Erdbeeren? Dann lässt er uns nochmal hinsehen, auch in die Ecken, auf den Hintergrund und wir sehen ganz andere Dinge. Die alte Frau im Hintergrund. Das Fenster links oben. Das Schild auf dem Haus. Nun lässt uns Benedikt die Bilder nachskizzieren – eine Lektion in Sachen Bildkomposition. Die Erkenntnisse? Je länger man hinsieht, umso mehr entdeckt man. Jeder von uns sieht zu jedem Zeitpunkt etwas anderes. Anders ausgedrückt: Das Beobachtete ist abhängig vom Beobachter. Und: Wer glaubt, alles gesehen zu haben, liegt meistens falsch. Das ist nicht nur relevant für Menschen, die gerne gute Fotos machen wollen, sondern für alle. Man beginnt, Möglichkeiten wahrzunehmen. Aus Nicht-Orten Orte zu machen, Poesie in Industrie zu sehen, wenn auch fürs erste nur im Kopf. 

1150 beginnt zu sprechen.

„Beim Fotografieren geht es zuerst um das Sehen, um das wachsame Sehen, das Sehen der kleinen Dinge. Das Bild steht am Ende dieses Prozesses. Aber was davor geschieht, ist entscheidend‟, sagt Benedikt, der sich seit fast einem Jahrzehnt mit der Fotografie beschäftigt. Und um dieses Davor soll es nun gehen. Wir packen unsere Handys ein und gehen los. Los geht’s tatsächlich direkt vor dem Haus.

„Geht einfach ein paar Minuten herum und seht euch um‟, sagt Benedikt. „Was fällt euch auf? Was ist sehenswert? Was erregt eure Aufmerksamkeit?‟

Wir befinden uns in einer ruhigen Seitengasse des 15. Bezirks. Würde man hier einfach durchspazieren, würde man so gut wie gar nichts als sehenswert empfinden. Graue Wände, ein paar Autos, die Straße. Ganz anders jetzt. Der 15. Bezirk beginnt zu sprechen. Zuerst flüsternd, dann immer lauter: Schau mal, dieses Fenster, dessen Vorhänge aussehen wie Zöpfe! Das abgedeckte Motorrad – was hat es zu verbergen? Und siehst du das „Alles aus‟ bei „Alles aus einer Hand?‟ Oder das „Ach‟ im Wort „Achse‟, das auf den Boden gesprayt wurde? Die Spuren auf dem Boden, die aussehen wie Aquarelle in Grau – wo kommen sie her?

 

 

Motive gibt es überall.

Jetzt gibt uns Benedikt schwarze Rahmen aus Papier in die Hand. „Eine Fotografie ist nie nur ein Abbild, sondern immer auch eine Umsetzung von Welt, eine Neusetzung.‟ Und wir beginnen, noch ohne Kamera, unsere ersten Motive zu finden. Noch mehr wird jetzt sehenswert. Gut sehen die Ausschnitte aus. Auch fotografierenswert. Wie gut, dass wir jetzt endlich die Handys rausnehmen dürfen, um das abzulichten, was uns vorhin schon ins Auge gesprungen ist. „Ich will euch bewusst kein Thema vorgeben‟, sagt Benedikt. Das Thema würde schon kommen, meint er. Er gibt uns eine halbe Stunde, in der wir durchs Grätzl streifen sollen, sehend, blickend, fotografierend, eventuell Muster erkennend, hoffentlich Thema findend. Das tun wir, und wieder stellt sich dieses Gefühl der Fülle ein: Motive gibt es überall. Als würde man eintauchen in eine ganz andere Welt, die sich einem offenbart, allein, weil man die Entscheidung getroffen hat, sie wahrzunehmen. Man beginnt Muster zu sehen, und langsam kommen die Themen wie von selbst, man muss sie gar nicht suchen. Es ist ein bisschen wie Meditieren. Wir sind im Hier und Jetzt. Und entdecken allerlei Sehenswertes auf den Straßen von 1150 Wien, die wir gestern noch keines Blickes gewürdigt hätten. 

Nach diesem Rendezvous mit dem Grätzl swipen wir durch unsere Aufnahmen und besprechen sie. Jeder von uns entscheidet sich für ein bestimmtes Thema, zu dem wir jetzt nochmal losziehen. Wir vertiefen unseren Blick und treffen uns 15 Minuten später in der Base Food & Celebrations in der Reindorfgasse. Dort wählen wir aus der Fülle an Bildern jeweils zehn bis zwölf aus, das ist gar nicht so einfach. Aber es schärft den Blick nochmal für das Wesentliche – und wird zur Lektion in Sachen Fokus. Die ausgewählten Bilder bearbeitet Benedikt dann gleich vor Ort auf seinem Laptop. „Sieht richtig gut aus‟, denken wir uns. Und mit verändertem Blick gehen wir nachhause, an diesem Sonntagnachmittag. Und nehmen mehr mit, als wir vielleicht erwartet hätten. 

Die Ergebnisse des Fotowalks sind in den Schaufenstern der Base Food & Celebrations (Werkrstadt15) ausgestellt und können dort entdeckt werden.

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